Montag, 27. April 2009

Es brodelt etwas in Europa

Europas Führung fürchtet soziale Unruhen

Von S. Bolzen und C. B. Schiltz 19. März 2009, 17:54 Uhr

Es brodelt in der Europäischen Union. Die Menschen haben Angst vor Arbeitslosigkeit und sozialem Abstieg. Und sie sind wütend auf die Politiker. Die jedoch verstricken sich auf europäischer Ebene in technische Details. Weil es nicht vorwärts geht, wächst jetzt die Angst vor sozialen Unruhen. Die Protestwelle rollt bereits.

Foto: DPA

... mehr als drei Millionen Menschen friedlich.

Zum Abschluss eines Protesttages gegen die Wirtschaftspolitik der Regierung ist es in Paris zu Ausschreitungen gekommen. Rund 500 Demonstranten griffen auf der Place de la Nation Polizisten mit Steinen und Flaschen an und setzten Müllcontainer in Brand, wie die Behörden mitteilten. Dabei wurden neun Beamte verletzt. Die Polizei nahm etwa 300 Demonstranten fest und leitete in 49 Fällen ein Strafverfahren ein.

In ganz Frankreich beteiligten sich bis zu drei Millionen Menschen an Streikaktionen und rund 200 Protestmärschen. Sie warfen der Regierung von Staatspräsident Nicholas Sarkozy Versagen in der Wirtschaftskrise vor und forderten eine Ausweitung der Staatsausgaben. Die Regierung hat dies abgelehnt.

Während in Paris gekämpft wird, sitzten im Brüsseler Europaviertel 26 Männer und eine Dame im achten Stockwerk eines braunen Betonbaus, Ober in schwarzer Livree servieren Filet und Rotwein. Am Tisch speisen die 27 Regierungschefs der Europäischen Union. Sie zanken um Kommas, sie streiten über den Unterschied zwischen „langfristigen“ und „kurzfristigen“ Konjunkturspritzen. Draußen, in Europa, tobt die schlimmste Wirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg. Angela Merkel, die deutsche Bundeskanzlerin, ist angespannt. Sie will an diesem Abend durchpauken, dass zig Millionen Euro aus einem Fünf-Milliarden Euro-Hilfspaket der EU-Kommission nicht in Energieprojekte, sondern in die Portemonnaies der deutschen Milchbauern fließen.

Für Luxemburgs Premier Jean-Claude Juncker sind die deutschen Bauern weit weg. Er kämpft für den Finanzplatz Luxemburg und gegen „schwarze Listen“ der OECD. „Luxemburg ist kein Steuerparadies. Wir stehen nicht unter deutschem oder französischem Kommando, sondern tun das, was wir für richtig halten“, sagt er.

„Das ist doch alles Gewäsch und Kleinkram“, meint ein Brüsseler Spitzenbeamter. „Die EU veranstaltet einen Gipfel nach dem anderen, aber sie hat keine Strategie, die den Menschen und den Märkten Vertrauen gibt.“

Die EU erwartet in diesem Jahr 3,5 Millionen Arbeitslose mehr, im kommenden Jahr soll jeder zehnte der 225 Millionen Beschäftigten in Europa arbeitslos sein. Das ist jetzt überall zu lesen, das sagt jeder EU-Politiker in Interviews. Es sind kalte Zahlen, sehr exakt, aber sie beschreiben nicht, was das bedeutet für das Leben der Menschen.

Gewerkschaften machen Druck

In Brüssel geht die Angst um. Immer wieder haben hohe EU-Beamte in den vergangenen Wochen bei internen Diskussionen davor gewarnt, dass im Herbst „soziale Unruhen“ in Europa ausbrechen könnten. Besonders gefährdet: Irland, Großbritannien, Griechenland und einige osteuropäische Staaten. Die EU-Strategen rechnen damit, dass die Arbeitslosigkeit ab Mai hochschnellen wird – dann laufen viele Förderprogramme aus und etlichen Unternehmen fehlt langsam das Geld. „Ich fürchte eine soziale Krise, die vor allem durch Massenarbeitslosigkeit geprägt sein wird“, warnt Europas dienstältester Regierungschef Juncker. Und EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso pflichtet bei: „Es wäre ein fundamentaler Fehler zu glauben, die EU müsse nur auf Finanzmarktregulierung achten.“

Stand Umfrage

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Auch die Gewerkschaften drängen zur Eile. „Ich fürchte, dass es in einigen Ländern schon bald zu erheblichen sozialen Verwerfungen kommt, wenn die EU-Staaten bei ihren Ausgaben nicht nachlegen und mehr Geld in arbeitsmarktpolitische Maßnahmen investieren“, sagt Reiner Hoffmann, stellvertretender Generalsekretär des Europäischen Gewerkschaftsbundes. Die Gewerkschaften fordern höhere Ausgaben für Kurzarbeit und Umschulungen.

Und sie machen Druck. Anfang April, erzählt Hoffmann, werden in Rom rund eine Million Demonstranten erwartet, mindestens 200.000 Menschen werden Mitte Mai nach Brüssel kommen. „Sie wollen nicht die Opfer der Krise sein“, sagt Hoffmann.

Es brodelt etwas in Europa

Während die EU-Staats- und Regierungschefs gestern Abend noch am Rotwein nippen, wickeln 300 Kilometer südwestlich von Brüssel Hunderttausende ihre Plakate und Fahnen zusammen. Frankreich hat seinen zweiten Massenstreik binnen Jahresfrist gesehen. Ende Januar gingen 2,5 Millionen Menschen auf die Straße; jetzt sind es noch einmal Zehntausende mehr.

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